Die Demokratie wurde in den 1990ern gefährdet
15.01.2024Bereits 1997 hat der Würzburger Bildungsforscher Heinz Reinders in seiner Doktorarbeit das antidemokratische Potenzial der damaligen Jugendgeneration im Osten prognostiziert. Fehlende Strukturen für gesellschaftliches Engagement und geringe berufliche Perspektiven waren damals die Anfänge dessen, was sich heute als AfD-Wählerschaft entpuppt.
Als Heinz Reinders im Jahr 2001 seine Dissertation zur politischen Sozialisation Jugendlicher in der Nachwendezeit vorlegt, enthalten die Analysen der Daten schon damals einigen Sprengstoff, der im Wahljahr 2024 seine ganze Wirkung zu entfalten scheint. Damals, so der heutige Bildungsforscher an der Universität Würzburg, haben die Ergebnisse der Umfragen unter Jugendlichen in Ost und West gezeigt, dass vor allem die jungen Menschen im Osten keine stabile Bindung zu demokratischen Werten aufgebaut haben. Seine Befunde zu Längsschnittstudien über vier Jahre zeigten bereits nach der deutsch-deutschen Vereinigung eine steigende Fremdenfeindlichkeit der Heranwachsenden.
Jugendlichen im Osten wurden keine Perspektiven geboten
„Wir konnten damals Daten neu analysieren, die zwischen 1992 und 1996 bei Jugendlichen im Alter von 10 bis 16 Jahren erhoben wurden. Die Schlussfolgerung in der Dissertation war eindeutig: gerade den Jugendlichen im Osten fehlten die Perspektiven, um eine gesunde Beziehung zur Demokratie aufzubauen“, so Reinders. Diese damaligen Jugendlichen sind heute zwischen 42 und 48 Jahre alt und damit eine der Kernwählergruppen für die AfD in den neuen Bundesländern. Etwas wissenschaftlicher ausgedrückt heißt es im Fazit der Doktorarbeit von Reinders im Fazit: „Jugendlichen, nachdem sie die Schule verlassen haben einen Arbeitsplatz zu geben, ist zwar ein relevanter Aspekt; aufgrund der Wertesensitivität im Jugendalter wäre es aber weitaus wichtiger, Heranwachsenden eine Perspektive zu bieten, die bei ihnen das Vertrauen in die demokratische Ordnung fördert.“
Hohe Arbeitslosigkeit der 90er Jahre ein Risikofaktor
Und diese Perspektive wurde den Jugendlichen in den neuen Bundesländern seinerzeit laut Reinders aus zwei Gründen nicht gegeben. Zum einen war die Jugendarbeitslosigkeit vergleichsweise hoch. Phasenweise waren bis zu 20 Prozent der Jugendlichen im Osten ohne Ausbildungsperspektive, im Westen war das Risiko nur halb so groß. „Jugendliche im Osten haben in ihrer sensiblen Entwicklungsphase erleben müssen, dass diese Gesellschaft sie vergisst. Das schwächt das demokratische Bewusstsein erheblich“, weiß Reinders aus seinen Forschungen und geht davon aus, dass dies den derzeitigen Zulauf für rechte Parteien wie der AfD mit erklärt.
Fehlende Möglichkeiten zu gesellschaftlichem Engagement
Eine andere Erklärung sieht der Jugendforscher im Wegfall der Strukturen für ehrenamtliches Engagement im Jugendalter. „Nach der Wende ist das gesamte SED-System der Jugendorganisationen weggefallen. Neue Institutionen, in denen sich Jugendliche engagieren konnten, mussten erst noch aufgebaut werden. Heranwachsende konnten sich faktisch nicht sozial engagieren“, so Reinders. Aus den eigenen Studien zu den positiven Wirkungen von gemeinnütziger Tätigkeit weiß er, dass sich dieses Engagement positiv auf demokratische Werte im Erwachsenenalter auswirkt. „Wer sich als Jugendlicher sozial engagiert, stützt später auch als Erwachsener die Demokratie. Eine ganze Generation Jugendlicher im Osten hatte dazu nach der Wende keine Gelegenheit“, schlussfolgert der Inhaber des Lehrstuhls Empirische Bildungsforschung an der Uni Würzburg und sieht hierin ein Manko, dessen Preis die Demokratie heute zahle.
Die Demokratie im Osten in Gefahr
Insgesamt, so Reinders, rächten sich die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die fehlenden Engagement-Möglichkeiten der 1990er Jahre rund dreißig Jahre später ganz erheblich. „Die Biographie vergisst nichts und jetzt ist in den neuen Bundesländern die Demokratie in Gefahr, weil damals die Zukunft der Jugendlichen zerstört wurde“. Rückgängig machen ließe sich dies nicht. Vielmehr sei es umso wichtiger, als Demokratie wehrhaft zu sein und sich den rechtsextremen Kräften entgegen zustellen. Denn schon im Abschluss-Satz seiner Doktorarbeit hat Reinders 1997 geahnt, dass sich die Versäumnisse nach der Wende nicht umkehren lassen: „Eine im Jugendalter einmal ausgebildete Zweck-Mittel-Rationalität wird durch einen späteren Arbeitsplatz vielleicht befriedigt, behoben wird sie dadurch wohl eher nicht“.
Reinders, H. (2001). Politische Sozialisation Jugendlicher in der Nachwendezeit. Opladen: Leske+Budrich. Download des Fazits der Doktorarbeit von 2001
Zur Person
Heinz Reinders ist Autor diverser Standardwerke der Jugend- und Bildungsforschung. Er hat seit 2007 den Lehrstuhl Empirische Bildungsforschung an der Universität Würzburg inne und forscht zu Themen des gesellschaftlichen Engagements Jugendlicher. Reinders war u.a. Mitglied der Expertenkommission der Bundesregierung des Dritten Engagementberichts. In seiner 1997 veröffentlichten Doktorarbeit an der Freien Universität Berlin hat er Daten von Jugendlichen aus Ost und West neu analysiert und bereits seinerzeit auf die Risiken eines fehlenden demokratischen Bewusstseins der jungen Generation hingewiesen.
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