Deutsch Intern
Nachwuchsförderzentrum für Juniorinnen

Verletzungsstudie des NFZ

12/13/2022

Die neueste Studie des Nachwuchsförderzentrums für Juniorinnen an der Universität Würzburg zeigt, dass das Risiko eine Gehirnerschütterung oder einer Verletzung des Kapsel-Band-Apparates von Gelenken zu erleiden, bei Juniorinnen deutlich erhöht ist, wenn sie bei den Junioren trainieren und spielen.

© Paul Zottmann
FWK Mannschaften Saison 2021-22 (Image: Urheberrechtlich geschutzt - paul@zottmann.eu)

Als nach der diesjährigen Europameisterschaft die DFB-Elf am Frankfurter Römer für ihren Vizetitel gefeiert wurde, standen auf dem Balkon fast ausnahmslos Spielerinnen, die in ihrer Zeit als Juniorin mindestens bis zur U15 bei den Jungen trainiert und gespielt haben. Dies gilt als unausgesprochenes Gesetz der Nachwuchsförderung im DFB und seinen Landesverbänden. Anders ist zumindest nicht zu erklären, dass der DFB die Talentförderung von Mädchen an den Stützpunkten der Jungen ansiedelt. Zudem berichten Spielerinnen und deren Familien wiederholt, ihnen würde ein möglichst langer Verbleib im Spielbetrieb der Jungen nahegelegt.

Inwieweit diese Förderpraxis das Verletzungsrisiko der jungen Spielerinnen erhöht, hat nun eine Studie des Nachwuchsförderzentrums für Juniorinnen an der Universität Würzburg untersucht. Dabei wurden 127 Spielerinnen der zweiten bis vierten Frauenligen rückblickend zu ihrer Verletzungsgeschichte befragt. Es wurde die Frage untersucht, ob das Verletzungsrisiko bei Spielerinnen, die bei Jungen trainieren und spielen im Vergleich zu denen, die nur in Mädchenmannschaften Fußball spielen, unterschiedlich ist. Aus der Studie ausgeschlossen wurden Spielerinnen der 1. Bundesliga, da diese als Profiliga andere medizinische Möglichkeiten im Vergleich zu den unteren Amateurligen bietet und zudem der Vergleich mit Spielerinnen aus einer reinen Juniorinnen-Karriere seltener im Oberhaus des DFB zu finden sind.

Typische Verletzungen im Mädchenfußball

„Die Studie zeigt uns sehr deutlich, wo die erhöhten Verletzungsrisiken für Mädchen liegen, wenn sie bei den Jungen trainieren und spielen“, fasst Dr. Sascha Goebel die Ergebnisse der Befragung zusammen. Er ist Co-Autor der Studie, erfahrener Sportmediziner und Orthopäde sowie Ausbilder der Gesellschaft für Arthroskopie und Gelenkchirurgie.  „Gerade in der sensiblen Wachstumsphase von Mädchen braucht es eine besondere Aufmerksamkeit für Bedingungen, die ein  erhöhtes Verletzungsrisiko mit sich bringen können. Das Spielen und Trainieren bei den Jungen ist nach unseren Daten eine solche Konstellation“, so der Privatdozent an der Universität Würzburg.

Die Studie begann kurz vor der Corona-Pandemie. Dabei wurden die Spielerinnen nach ihren Verletzungen aus der Zeit als Jugendspielerin befragt. Die 127 Spielerinnen berichteten insgesamt 261 Verletzungen, knapp ein Drittel der Spielerinnen gab dabei an, die gleiche Verletzung drei oder mehrfach erlitten zu haben. „Besonders häufig sind dabei Verletzungen der unteren Extremitäten, die 60 Prozent der Verletzungen bei den Spielerinnen ausmachen“, so Dr. Goebel. Innerhalb der Verletzungen der unteren Extremitäten sind Knöchelverletzungen besonders häufig (35 Prozent), gefolgt von Verletzungen des Knies (31 Prozent) und  Fußverletzungen im Allgemeinen (21 Prozent).

Bei der Art der Verletzungen dominieren deutlich Schädigungen des Kapsel-Band-Apparates. Bei 35 Prozent aller berichteten Blessuren sind die Bänder betroffen, 29 Prozent der Verletzungen betreffen Muskelzerrungen oder -faserrisse und bei 26 Prozent liegen Prellungen vor. Ein Fünftel der Spielerinnen musste aufgrund  der erlittenen Verletzung nur bis zu einer Woche pausieren, rund die Hälfte bis zu einem Monat. Ein weiteres Viertel gab an, aufgrund der Verletzung länger als einen Monat nicht gespielt oder trainiert zu haben.

Anstieg des Verletzungsrisikos ab der U15

Aber auch die aktuell intensiv diskutierte Frage eines erhöhten Risikos von Gehirnerschütterungen spielte in der Studie eine Rolle. „Wir wissen, dass Mädchen in Relation zur Trainings- und Spielbelastung im Fußball häufiger eine Gehirnerschütterung als Jungen erleiden. Deshalb hat uns der hohe Anteil dieser Verletzungsart nicht gewundert“,[1] so der erfahrene Sportmediziner, der seit über einem Jahrzehnt Mädchen- und Frauenteams betreut. Immerhin 13 Prozent der Spielerinnen gab an, im Verlauf der Jugend beim Fußball eine Gehirnerschütterung erlitten zu haben. Über die Hälfte hat aufgrund dieser Verletzung einen Monat oder länger vom Fußball pausiert.

Besonders verletzungsanfällig waren die Spielerinnen nach eigener Erinnerung in der U15 und insbesondere der U17. Während weniger als ein Prozent der Spielerinnen im Alter der U13 häufige Verletzungen erinnerten, die zu einer Pause von zwei Wochen oder länger zwangen, steigt dieser Anteil bis zur U17 auf achtzehn Prozent . Dies korreliert mit der erlebten Belastung durch Training und Spiele. Erlebten nur 0,8 bzw. 1,6 Prozent der Spielerinnen eine starke bis sehr starke Belastung als U11- bzw. U13-Juniorin, nimmt dieser Anteil bis zur U15 auf 25,2 Prozent zu und erreicht in der U17 einen Spitzenwert von 75,6 Prozent.

Parallel hierzu steigt auch der bei den Spielerinnen erfasste körperliche Erschöpfungsindex. Der eigens für die Studie entwickelte Index bildet ab, wie hoch die körperliche und geistige Erschöpfung erlebt wurde und lag in der U11 noch bei einem Wert von 0,13. Bis zur U17 nimmt der Erschöpfungsindex auf 1,68 zu und legt damit im Zeitraum von sechs Jahren um das Zwölffache zu. „Auch hier wissen wir aus internationalen Studien, dass mit zunehmender körperlicher und geistiger Erschöpfung das Verletzungsrisiko erheblich ansteigt“[2], erläutert Prof. Dr. Olaf Hoos die Befunde. Der Sportwissenschaftler hat ebenfalls an der Studie mitgewirkt und befasst sich schwerpunktmäßig mit der Belastungssteuerung.

Spielrecht bei Jungen ein erhebliches Verletzungsrisiko

Und hier komme nun die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Spielrecht bei Junioren als möglicher Risikofaktor ins Spiel. Immerhin 66 Prozent aller befragten Spielerinnen hat in der U15 noch bei den Jungen gespielt, jede fünfte Spielerin sogar mit Doppelspielrecht bei den Jungen und den Mädchen. In der U17 sinkt der Anteil beim Doppelspielrecht zwar auf 11,8 Prozent ab, weitere 13,4 Prozent spielten zu dem Zeitpunkt aber noch ausschließlich bei den Junioren. „Für zwei Drittel der Spielerinnen in der U15 und immerhin noch für jede fünfte Spielerin in der U17 besteht nach unseren Daten ein deutlich erhöhtes Erschöpfungsrisiko“, so Goebel. „Die erlebte Erschöpfung steigt mit der Jugend besonders stark für Spielerinnen an, die entweder nur oder auch bei den Junioren spielen“, so Hoos, ein Unterschied, der ab der U15 statistisch signifikant sei. Entsprechend verwundere auch nicht der unterschiedliche Verlauf der erlebten Erschöpfung.

Je älter die Spielerinnen werden, desto belastender ist für sie die Teilnahme am Training und an Spielen. „Aufgrund der körperlichen Umstellungen in der Pubertät ist das einerseits generell für Mädchen erwartbar“, so Goebel, „aber wenn dann das Spielen bei den Jungen noch als zusätzlicher Stressor hinzukommt, dann können solche deutlich erhöhten Erschöpfungswerte entstehen“. Und die bleiben laut der Würzburger Studie nicht ohne Folgen für die Verletzungswahrscheinlichkeit der Spielerinnen.

Erhöhte Erschöpfungswerte und gestiegenes Risiko für Gehirnerschütterungen

So konnte das Team um Studienleiter Prof. Dr. Heinz Reinders in ihrer Studie zeigen, dass Spielerinnen mit Gehirnerschütterung in ihrer Jugendzeit deutlich höhere Erschöpfungswerte aufweisen, als solche ohne erlebte Gehirnerschütterung.

Gleiches gilt auch für die Verletzung der Bänder. Spielerinnen hatten in ihrer Zeit als Juniorin dann eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Bänderverletzung, wenn ihre Erschöpfung besonders hoch ausgefallen ist. „Das gilt für die U15 und die U17, weshalb wir hier klar von einer sehr sensiblen Phase in der sportlichen Entwicklung der Mädchen sprechen“, so Reinders, der aus pädagogischer Perspektive schon seit jeher einen kritischen Blick auf die Praxis der Nachwuchsförderung der Verbände wirft.

Bänderverletzungen nehmen deutlich zu

Wird allein die Prävalenz der Bandverletzungen als häufigste Verletzungsart herangezogen, steigt das Risiko einer solchen Blessur in der U17 um das 2,3-Fache für Mädchen, die (auch) bei den Junioren trainieren und spielen. Während nur 30 Prozent der U17-Spielerinnen eine Bänderverletzung angeben, die nur in einem Mädchenteam gespielt haben, erhöht sich dieser Wert für ihr Pendant in einer Jungenmannschaft auf über 70 Prozent.

Aus medizinischer Sicht ist sich Goebel sicher, dass die Studie auch ohne klinische Daten ein plausibles Bild des erhöhten Verletzungsrisikos zeichnet. „Alle unsere Indikatoren liegen im Bereich anderer nationaler und internationaler Studien und insbesondere die Rolle von Erschöpfung als Stressor und Risikofaktor bei Verletzungen ist hinlänglich belegt und medizinisch eindeutig“[3]. Daher sollten seiner Meinung nach die Studiendaten dazu führen, dass ein sehr sorgfältiger Blick auf die gesundheitlichen Bedingungen der Nachwuchsspielerinnen geworfen wird.

Reinders pflichtet ihm bei. „Die Studie sagt ja nicht, dass eine Förderung der Spielerinnen bei Jungs sportlich sinnlos ist. Aber die Hinweise aus der Studie bedeuten, dass wir nicht einfach von den jungen Spielerinnen erwarten können, ihre Gesundheit durch die Teilnahme bei Jungen zu gefährden“. Denn ein riesiges Problem der Talentförderung der Verbände seien die „liegengelassenen Spielerinnen“, wie Reinders es nennt. „In den Auswahl- und Nationalteams sehen wir ja nur die Spielerinnen, die es bis dorthin geschafft haben. Aber was ist mit denen, die bereits im Juniorinnenalter durch schwerere oder häufige Verletzung Leistungsverluste oder gesundheitliche Schäden erleiden mussten und  dadurch aus der Stützpunktförderung herausfallen? Die haben nicht die umfassende medizinische Versorgung der U-Nationalteams oder der Vereine der 1. Bundesliga“. Hier erwartet Reinders mehr Übernahme der Sorgfaltspflicht durch den DFB (s. Interview).

„Dunkelziffer“ unerkannter Verletzungen vermutlich größer

Die Autoren der Studie räumen ein, dass eine retrospektive Befragung mit Einschränkungen versehen ist. So würden vor allem kleinere Verletzungen weniger erinnert und eher die markanten Verletzungspausen in Erinnerung bleiben, bei denen vielleicht auch eine medizinische Versorgung notwendig wurde. „In einer klinischen Langzeitstudie würden wir sicher noch die eine oder andere Überraschung auf dem MRT oder bei Röntgenbildern finden“, ist sich Goebel sicher, weil die Spielerinnen Verletzungen nicht als so gravierend wahrgenommen haben, aber dennoch Langzeitfolgen wie Knorpelschäden mit sich herumtragen würden.

„Unter dem Strich haben wir aber die gleiche Befragungsmethode gewählt, wie sie auch früher schon in Kooperation mit dem DFB angewendet wurde.[4] Insofern sind wir zumindest bei der Forschungsmethode auf einer Linie mit dem Verband. Was aber aus den Ergebnissen gemacht wird, liegt nun nicht mehr in unseren Händen“, so Reinders. Reinders hofft aufgrund der wissenschaftlichen Ergebnisse auf eine Sensibilisierung der Verantwortlichen in den Verbänden. „Die Wissenschaft kann die Entscheidungsträger darin unterstützen, für die Gesundheit, die Leistungsfähigkeit und das Wohl der Fußball spielenden Mädchen und jungen Frauen die richtigen Weichen zu stellen.“

Über die Studie

Die Studie wurde im Herbst 2019 bei 127 Spielerinnen der zweiten bis vierten Frauen-Spielklasse als Online-Befragung durchgeführt. Die Spielerinnen waren zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 16 und 27 Jahren als, das Durchschnittsalter der Spielerinnen betrug 21,3 Jahre (Standardabweichung [SD] = 4,05), die durchschnittliche Anzahl der Jahre an Spielerfahrung lag bei 14 Jahren (SD = 4,63). Der Body-Mass-Index der Spielerinnen lag mit MW = 22,62 (SD = 2,11) für diese Altersgruppe im Normalbereich. 89,1 Prozent der Spielerinnen haben in ihrer Jugendzeit in einem Team im Leistungsbereich gespielt (hiervon 66,9 Prozent Landesliga oder höher bei Juniorinnen sowie 22,2 Prozent Bezirksoberliga oder höher bei Junioren). Die erfasste Stichprobe kann als typisch für die Spielklassen angesehen werden, ist jedoch nicht repräsentativ, sondern als Pilotstudie für nachfolgende Untersuchungen angelegt. Die Ergebnisse der Studie sind zur Veröffentlichung in der DOSB-Zeitschrift „Leistungssport“ eingereicht, die über ein Peer-Review-Verfahren verfügt.

 


[1] Alahmad, T. A., Kearney, P. & Cahalan, R. (2020), Injury in elite women’s soccer: a systematic review, The Physician and Sportsmedicine, 48 (3), S. 259-265, https://doi.org/10.1080/00913847.2020.1720548

Slimani, M., Bragazzi, N. L., Znazen, H., Paravlic, A., Azaiez, F., & Tod, D. (2018). Psychosocial predictors and psychological prevention of soccer injuries: A systematic review and meta-analysis of the literature. Physical therapy in sport : official journal of the Association of Chartered Physiotherapists in Sports Medicine32, 293–300. https://doi.org/10.1016/j.ptsp.2018.05.006

[2] Gaulrapp, H., Becker, A. & Hess, H. (2007). Verletzungen beim Frauenfußball: Eine prospektive Studie aus der ersten Frauenfußball-Bundesliga: In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Fußballbund (DFB), Sport-Orthopädie - Sport-Traumatologie - Sports Orthopaedics and Traumatology, 23, S. 126-132.

[3] Towlson, C., Salter, J., Ade, J. D., Enright, K., Harper, L. D., Page, R. M., & Malone, J. J. (2021). Maturity-associated considerations for training load, injury risk, and physical performance in youth soccer: One size does not fit all. Journal of sport and health science, 10, S. 403–412.

Watson, A., Brickson, S., Brooks, A., & Dunn, W. (2017). Subjective well-being and training load predict in-season injury and illness risk in female youth soccer players. British journal of sports medicine, 51(3), 194–199. https://doi.org/10.1136/bjsports-2016-096584

[4] Kerr, Z.Y., Campbell, K. R., Fraser, M. A.,  Currie, D. W., Pierpoint, L. A., Kaminski, T.W. & Mihalik, J. P. (2019), Head Impact Locations in U.S. High School Boys' and Girls' Soccer Concussions, 2012/13–2015/16, Journal of Neurotrauma 2019, 36, 2073-2082.